Wer viel reist der hat ganz sicher, eine innere Liste der Dinge, die er gerne noch sehen möchte. Genau wie ich. Und auf eben dieser Listen standen sie schon seit vielen Jahren: Die Niagarafälle. Ich hatte immer eine genaue Vorstellung davon, wie es sein würde: Man fährt durch unendliche Weiten, die mit goldenem Gras bedeckt sind. Dann stellt man das Auto in der vollkommenen Einsamkeit ab, erklimmt noch einen kleinen Hügel und dann kann man sie sehen: Die Wasserfälle und das berühmte Hufeisen, in das sie hinein stürzen. Wer schon einmal dort war, der wird mir zustimmen, dass davon nichts der Realität entspricht, außer dem Wasserfall selbst. Ich hatte mich inzwischen natürlich auch belesen und festgestellt, dass die Niagarafälle nicht in einsamer Natur, sondern mitten in einer Stadt mit 100.000 Einwohnern liegen. Mir war auch klar, dass dort viele Touristen sein würden: 18 Millionnen Besucher zählen die Niagarafälle pro Jahr und die müssen schließlich irgendwo hin – aber DAS, das habe ich nicht erwartet.

Wir fahren vom Highway ab und befinden uns schon nach wenigen Blocks mitten auf einem Rummelplatz. Eine Souvenirbude mit Tshirts, Kappen und allem, was das Wort Niagara tragen möchte, oder nicht möchte, reiht sich an die nächste, die noch mehr Schrott verkauft. Daneben Imbissbuden, die Pizza, fettige Donuts und Eis feilbieten. Menschenmassen vor allem asiatischer und augenscheinlich indischer Herkunft schieben sich durch die Straßen. Wir werden empfangen von einem Blitzgewitter aus Licht und Lärm. Der Burger King hat sich in einen Achter- / Geisterbahnverschnitt verwandelt. Ein Riesenrad dreht blinkend seine Kreise und auf dem Abenteuerminigolfplatz gleich nebenan stehen Dinosaurier aller Arten und Größen. Wahrscheinlich hat sich Ben Lalen hier so richtig austoben können. Passend zu dem ganzen Theater bricht dann gleich neben unserem Auto auch noch ein Vulkan aus, der mit lautem Getöse und Zischen einen Feuerball in den Himmel schickt. Ist das zu fassen? Ich dachte, wir wollten zu den Niagarafällen und nicht auf eine total überdrehte Kirmes. Sind wir schon in Vegas, oder was? Das hier hat auf jeden Fall herzlich wenig mit meinen grasbestandenen Weiten zu tun, die ich mir im Schatten der Niagarafälle einst vorstellte.
Der Parkplatz kostet üppige 25 Dollar; egal, er ist bewacht. Das ist sicher sinnvoll, denn neben den Touristenmassen gibt es natürlich auch genug schräge Gestalten, die ihr Hab und Gut in dunklen Ecken untergebracht haben und sich bis zum Einbruch der Nacht unter dem Graphitybemalten Treppenabsatz herumdrücken. Wieder andere versuchen billigen Schmuck an die Frau zu bringen. Diese Gesellschaft ist genauso wenig vertrauenserweckend, wie der steile und schmale Pfad, der durch dichtes Gebüsch zu den Fällen hinuterführt. Ich beschleunige meinen Schritt. Bei Dunkelheit möchte ich diesen Pfad nicht wieder hinaufgehen müssen.

Unten angekommen stellt sich aber auch keine Erleichterung ein. Wir können zwar die Niagarafälle schon erahnen, doch davor drängen sich so viele Menschen, dass wir sie gar nicht richtig sehen können. Eine Dame mit Warnweste und Trillerpfeife regelt den Verkehr, lässt die Menschenmassen über die Straße, hält Fahrzeuge an. Ich bin entsetzt und auf grosteke Weise fasziniert von diesem irren Trubel.

Wir erkämpfen uns einen Platz an der Mauer und nun können wir sie sehen: Die Wassermassen, die türkis über die Abbruchkante fallen und sich dann hinab in das Hufeisen stürzen, um gleich darauf als Wassersäule wieder aufzusteigen. Schon schön, beeindruckend. Ich bin nur etwas abgelenkt von dem Ausflugsboot, was dort unten vor dem Wasserfall hin- und herfährt, den Helikoptern und dem Zeppelin, die über den Fällen kreisen. Hinter uns werden im Sekundentakt Kapseln auf den Skylontower geschossen, um Touristen auf die Aussichtsplattform zu bringen. Überall laufen, schnattern und knipsen Leute. Gleichzeitig ist es nicht möglich ein Foto zu machen, ohne dass einem irgendwer ins Bild läuft. Hilfe. Was für ein Zirkus. Christian macht noch ein paar Aufnahmen, dann kehren wir schleunigst wieder um, auf der Suche nach benannter Einsamkeit.
Schade. Das ganze Drumherum in Niagara lässt glatt vergessen, worum es hier eigentlich geht: Nämlich ein außergewöhnliches Stück Natur…
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